Medizinisches Cannabis beim Tourette-Syndrom – eine sinnvolle Therapieoption?
Medizinisches Cannabis kann unter anderem bei einer Vielzahl von neurologischen und psychiatrischen...
By: Dr. Julian Wichmann 23.01.24 14:35
Medizinisches Cannabis hat mit chronischen Schmerzen, chronisch-entzündlichen Erkrankungen oder auch Schlafstörungen eine Vielzahl von Indikationen. In den letzten Jahren wurden zudem erste Versuche unternommen, sich die positiven Eigenschaften von Cannabis auch für die Behandlung der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) zu Nutze zu machen. In einer aktuellen Studie (1) hat ein kanadisches Forscherteam aus Pharmakologinnen und Psychiatern um Dr. Holly Mansell von den Universitäten Manitoba und Saskatchewan, Kanada, drei Patientenfälle zu Cannabis als Therapieoption der ADHS beschrieben, ausgewertet und veröffentlicht. Die Berichte beruhen auf den Auskünften der Patienten, welche über ihre Krankenakten und psychiatrischen Testungen überprüft wurden.
Die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS, beschreibt ein häufiges Krankheitsbild in der Kinder- aber auch Erwachsenenpsychiatrie. Insbesondere Jungen im frühen Schulalter sind von ihr betroffen. Die typische Symptomatik bilden die Trias aus Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität sowie erhöhter Impulsivität.Diese Kinder fallen häufig in sozialen Kontexten wie dem Schulalltag auf, da es ihnen schwerfällt sich kontinuierlich auf eine Sache zu konzentrieren, still zu sitzen oder überlegte Entscheidungen zu treffen. Auch teilweise auftretende Aggressivität im Rahmen von Impulsivität sowie Distanzlosigkeit gegenüber Erwachsenen stellen Eltern, Schul- oder Kindergartenpersonal, sowie das soziale Umfeld häufig vor herausfordernde Situationen. Für die Diagnosestellung müssen typische Symptome vor dem 7. Lebensjahr für mindestens 6 Monate in unterschiedlichen sozialen Umgebungen vorliegen. ADHS kann somit zwar im Erwachsenenalter weiter bestehen und rückwirkend erstmalig diagnostiziert werden, nicht jedoch neu auftreten. Nach Vollendung der Adoleszenz mildern die Symptome regelmäßig ab und sind häufig nur noch an desorganisiertem und sprunghaftem Verhalten, oder auch deprimierter Stimmung zu erkennen. Zwei von drei PatientInnen sind sogar anhaltend beschwerdefrei. Als Therapie wird eine multimodale Strategie mit pharmakologischer Gabe und Einbeziehung der Familien und der jeweiligen Bildungseinrichtung empfohlen. Als Mittel der Wahl gilt das Psychostimulans Methylphenidat (Ritalin®), das als Amphetamin-Abkömmling eine vermehrte Freisetzung und Hemmung der Wiederaufnahme von Noradrenalin und Dopamin induziert. Trotz insgesamt guter Verträglichkeit kann es hierbei zu unerwünschten Nebenwirkungen wie einer Erhöhung des Blutdrucks, Einschlafstörungen oder Wachstumsdefiziten kommen.
Beim ersten Patienten handelt es sich um einen 22-jährigen Mann mit seit längerem bestehender ADHS sowie generalisierter Angststörung. Er nahm seit seiner Kindheit eine Vielzahl unterschiedlicher Medikamente ein, darunter Methylphenidat (Ritalin®), sowie verschiedene Antidepressiva und Antiepileptika. In seiner Jugend kam er zum ersten Mal mit Cannabis in Kontakt, wodurch er eine Verbesserung seiner Konzentrationsfähigkeit bemerkte. Er wandte sich daraufhin an einen spezialisierten Arzt, welcher ihm ein medizinisches Cannabispräparat in einem Verhältnis von 1:20 aus Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) verschrieb, das der Patient zweimal am Tag einnahm. Heute wechselt er zwischen der Einnahme von CBD-Öl und dem Rauchen von THC-haltigen Blüten, wobei der Patient subjektiv insbesondere von einer erhöhten Symptomreduktion durch den psychoaktiven Wirkstoff Tetrahydrocannabinol berichtet. Er würde so entspannter, ausgeglichener, weniger ängstlich und offener im Umgang mit anderen Menschen sein. Auch seine Konzentrationsfähigkeit verbesserte sich nachhaltig, sodass der Patient das medizinische Cannabis als Ergänzung zu seiner regulären Medikation als wirklich gute Hilfe beschreibt.
Der Fallbericht über den zweiten Patienten beginnt mit einer Zusammenfassung seiner bisherigen Krankheitsgeschichte. Der Patient bekam schon im frühen Kindesalter die Diagnose ADHS, weswegen er seit der 3. Klasse immer wieder das Psychoanaleptika Methylphenidat (Ritalin®) einnahm. Das Medikament konnte jedoch insbesondere seine Emotionsregulation nicht nachhaltig verbessern. Weiterhin hatte der Patient das Gefühl, das Medikament würde seine Persönlichkeit verändern, was zu einer starken Abneigung gegenüber der Einnahme führte. Im Alter von 17 Jahren begann der Patient eine Therapie mit Lithium, ein Medikament zur Prophylaxe von Depressionen, sowie mit öligem Cannabispräparat (CBD:THC im Verhältnis 20:1). Er berichtete daraufhin von einer eintretenden Entspannung, erhöhter Konzentrationsfähigkeit sowie dem Gefühl, weiterhin er selbst zu sein. Im Gegensatz zur Zeit davor, in der er unkonzentriert war, schlechte Schulleistung erbrachte und schließlich auch in die Psychiatrie eingewiesen wurde, habe er sein Leben nun umkrempeln können. Er könne sich langfristig Ziele setzen und an diesen festhalten. Auch sein Sozialleben konnte sich subjektiv deutlich verbessern.
In Fallbericht Nummer 3 berichten die Autoren von einem 22-jährigen Patienten, der zwei Jahre zuvor die Diagnose ADHS gestellt bekommen hatte. Neben einem Therapieschema mit üblichen Arzneimitteln wie Dexamphetamin und Pregabalin nahm er nach einiger Zeit bei unzureichender Wirkung auch ein Cannabispräparat im Verhältnis 5:1 von THC zu CBD ein. Er beschrieb, dass das medizinische Cannabis in Kombination mit der etablierten Therapie synergistische Effekte hätte und ihn beruhigen, seine Aufmerksamkeit verbessern und ihn ruhiger schlafen lassen würde. Zuvor hatte er auch Präparate in anderen Zusammensetzungen ausprobiert, wobei ein höherer THC-Gehalt seine Motivation reduzieren und reine CBD-Öle bei ihm keine zufriedenstellende Wirkung gezeigt hatten.
Die Autoren berichten, dass sämtliche subjektive Erfahrungen und Gefühlszustände der Patienten auch mit etablierten klinischen Tests belegt werden konnten. In der Psychiatrie existieren etliche Skalen und Scores, welche es dem Behandlungsteam erlauben, subjektive Aussagen in vereinheitlichten Punktzahlen zu quantifizieren und einzuordnen. Bei allen drei Patienten konnte nach der Einnahme des medizinischen Cannabis eine Verbesserung in den Testungen für Depression (30 – 81 %), für Angstzustände (bis 33 %) sowie für Emotionsregulation (22 – 78 %) nachgewiesen werden. Auch die sogenannte SNAP-Skala zur Messung der beim ADHS besonders relevanten Unaufmerksamkeit konnte eine Verbesserung von 7 – 30 % zeigen. Wichtig ist den Autoren, dass das medizinische Cannabis in allen drei Fällen als zusätzliches Medikament zu einem etablierten Behandlungsschema gegeben wurde. Dies ist insbesondere relevant, da die Plasmakonzentrationen der Cannabinoide bei den Patienten im Talspiegel (dem niedrigsten Tageswert) häufig nicht nachweisbar waren, das heißt, dass das medizinische Cannabis nicht den vollen Tag über wirken konnte. In der Studie wurden keine einheitlichen Dosen, Präparate und Einnahmefrequenzen vorgegeben, sondern das individuell passende Cannabisprodukt zusammen mit einem Psychiater ausgesucht. Es gibt in der Literatur noch zwei weitere Fallstudien zu Cannabis bei ADHS. In beiden Fällen konnte eine Verbesserung in ADHS-spezifischen Leistungstests und eine Abnahme charakteristischer Symptome gezeigt werden. Aufgrund der begrenzten Anzahl und dem Fehlen randomisierter Studien, kann von diesen jedoch nicht auf die Gesamtzahl an ADHS-Patienten geschlossen werden. Medizinisches Cannabis bleibt bei ADHS bis auf Weiteres also ein individueller Therapieversuch, der bei mangelnder Symptomreduktion oder Nichtvertragen etablierter Therapieschemata zusammen mit einem fachkundigen Arzt ausprobiert werden kann.
Der Wirkmechanismus von medizinischen Cannabispräparaten wird zunehmend genau verstanden. Bei chronischen Schmerzen ist so insbesondere der Cannabinoid-Rezeptor 1 beteiligt, welcher auf allen Ebenen der menschlichen Schmerzverarbeitung zu finden ist. Bei vielfältigen Erkrankungen, wie der ADHS, steckt die Forschung zu biochemischen Wirkmechanismen jedoch noch in den Kinderschuhen. Den Autoren nach scheint für die Symptomlinderung bei ADHS insbesondere eine cannabis-induzierte Dopaminfreisetzung in einem wichtigen Hirnareal (Striatum) eine Rolle zu spielen. Doch auch angstlösende und beruhigende Eigenschaften der Cannabinoide sind wohl Teil der Gesamtwirkung.
Medizinisches Cannabis in Ergänzung zu einem etablierten Therapieschema scheint bei volljährigen ADHS-Patienten eine positive Wirkung zu zeigen. Charakteristische Symptome wie Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität und erhöhte Impulsivität konnten in den vorliegenden Fallstudien nachweislich reduziert werden. Bis auf den Nachweis durch großangelegte, randomisierte Studien sollte dies jedoch lediglich als individueller Therapieversuch angesehen werden, welcher nur unter fachkundiger Kontrolle durchgeführt werden sollte. In den Fallstudien traten keine Nebenwirkungen durch das medizinische Cannabis auf. Das ideale Cannabispräparat, Dosierung und Einnahmefrequenz konnten bei ADHS noch nicht herausgefunden werden, sodass diese Parameter durch einen Arzt/Ärztin individuell auf den Patienten oder die Patientin angepasst werden sollten.
Medizinisches Cannabis kann unter anderem bei einer Vielzahl von neurologischen und psychiatrischen...