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Medizinisches Cannabis bei Multipler Sklerose: eine effektive Therapieoption?

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Eine effektive Therapieoption?

Verordnung und Einnahme von medizinischem Cannabis kann bei Multipler Sklerose (MS) einige typische Symptome lindern. In einer aktuellen Übersichtsarbeit haben Wissenschaftlerinnen und Neurologinnen der Oregon Health & Science University, USA, sämtliche verfügbare Studien zu diesem Thema erfasst und ausgewertet (1). Ziele der Arbeit um das Team von Dr. Jessica Rice waren zum einen wirksame Cannabispräparate und Dosierungen für eine Therapie zu identifizieren, zum anderen die Effekte auf MS-induzierte Symptome wie Spastik und Schmerzen zu evaluieren.

Das Krankheitsbild der Multiplen Sklerose

Die Multiple Sklerose, auch als disseminierte Enzephalomyelitis oder kurz MS bekannt, ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). Weltweit sind über 2,5 Millionen Menschen betroffen. Ihre charakteristischen Schäden am ZNS treten als herdförmige Läsionen auf, welche insbesondere auf einer Schädigung der Myelinscheide der Nervenfasern – einer Art Isolierung für die rasche Informationsweiterleitung zwischen Nervenzellen (Neuronen) – beruhen. Bis heute bleibt die genaue Ursache der Krankheit unbekannt. Ihr Beiname als „Krankheit der 1000 Gesichter“ ist einer Vielzahl von potenziellen neurologischen Symptomen geschuldet, welche je nach Lokalisation des betroffenen Gebiets auftreten können und interindividuell stark variieren. Der Krankheitsverlauf entwickelt sich typischerweise schubförmig.

Im Anfangsstadium treten bei der MS häufig Sensibilitäts-, sowie Sehstörungen auf, wobei letztere aufgrund einer Entzündung des Sehnervs auftreten. Doch auch Muskellähmungen (Paresen), Blasenstörungen, extreme Müdigkeit oder Spastiken – durch einen erhöhten Muskeltonus – können im Verlauf auftreten. Im fortgeschrittenen Stadium kann die Erkrankung auch eine dauerhafte Behinderung nach sich ziehen. Für die Diagnosestellung spielen klinische Symptome, Laborbefunde sowie bildgebende Verfahren eine Rolle. Als Behandlungsoption akuter MS-Schübe stehen hochdosierte Glukokortikoide, meist Cortisonpräparate, zur Verfügung. Zur langfristig verlaufsmodifizierenden Behandlung sind eine Reihe von immunsuppressiver und immunmodulatorischer Wirkstoffe zugelassen. Ein Heilmittel für die MS gibt es jedoch bis heute nicht.

Cannabis als Therapeutikum

Medizinisches Cannabis kann bei einer Reihe von Erkrankungen als Arzneimittel eingesetzt werden. Seine Hauptwirkstoffe sind die Cannabinoide, worunter unter anderem auch die bekanntesten Vertreter Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) fallen. Neben diesen pflanzlichen (Phytocannabinoide), existieren auch körpereigene Cannabinoide, die sogenannten Endocannabinoide. Beide Arten binden im menschlichen Organismus an eine Reihe von Rezeptoren, am häufigsten jedoch an die Cannabinoidrezeptoren (CB) 1 und 2, für die sie namensgebend sind. Durch eine Reihe von intrazellulären Kaskaden führt dies in der Endstrecke insbesondere im Hirn zu einer veränderten Neurotransmitterausschüttung, was unter anderem angstlösende, entzündungshemmende und schmerzlindernde Effekte haben kann. Einige dieser Effekte können auch beim Krankheitsbild der Multiplen Sklerose auf relevante Symptome wirken und diese reduzieren.

Wirkung von medizinischem Cannabis auf MS-induzierte Spastik

Über 85% der Patienten mit Multipler Sklerose leiden unter sogenannten Spastiken. Diese, ursprünglich vom griechischen spasmós für Krampf abgeleitet, beschreiben in der Medizin krankhafte Erhöhungen der Muskelspannung, welche aufgrund einer Schädigung des zentralen Nervensystems auftreten. Trotz der Existenz etablierter Therapieoptionen ist eine effektive Linderung dieses Symptoms längst nicht in allen Fällen möglich, oftmals auch nur unter einem erheblichen Nebenwirkungsprofil.

Den Autorinnen nach, sei die bisherige ideale Intervention bei MS-induzierter Spastik eine örtliche Injektion des Nervengifts Botulinumtoxin (Botox). In der klinischen Praxis wird der Schweregrad der Spastik mithilfe der Ashworth-Skala von 0 (normaler Muskeltonus) bis 4 (Versteifung) quantifiziert. Die Autorinnen berichten von der größten Studie zu Cannabis bei Spastiken, bei der 630 Patienten mit MS und einer schwerwiegenden Spastik (Ashworth-Skala >2 in >2 Muskelgruppen) für 15 Wochen entweder ein Cannabisprodukt oder ein Placebo bekamen. Es zeigte sich, dass diejenigen, die eines der Cannabisprodukte (Dronabinol oder Cannador) einnahmen, signifikante deutlichere Verbesserungen der Spastizität und Schlafqualität im Vergleich zu denjenigen erfuhren, welche das Placebo einnahmen. Bei anderen Symptomen wie Zittern, Reizbarkeit, Depression oder Müdigkeit konnte keine signifikante Verbesserung gezeigt werden.

Auch konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen den Präparaten Cannador (THC:CBD im Verhältnis 2:1) und Dronabinol (teil-synthetisches THC-Derivat) festgestellt werden. Auch in einer weiteren Studie wurde das Cannabispräparat Cannador mit einem Placebo verglichen. Hier war die Linderung der Muskelsteifheit bei der Interventionsgruppe mit Cannabis nach 4 und 8 Wochen fast doppelt so groß wie bei denjenigen, welche das Placebo einnahmen. Auch Präparate mit einem THC-zu-CBD-Verhältnis von 1:1 wie Nabiximol zeigten in Studien eine signifikant stärkere Reduktion der Spastizität als das Placebo. Weiterhin kam es auch zu einer statistisch signifikanten Verbesserung der Schlafqualität.

Den Autorinnen nach unterstützt die vollumfängliche Datenlage die Verwendung von medizinischem Cannabis zur Verringerung des Schweregrades der Spastik bei Multipler Sklerose. Einschränkungen seien der oft nur kurze Beobachtungszeitraum, sowie der Effektnachweis lediglich bei Sprays und oraler Gabe. Es würden keine Studien existieren, in denen das Präparat geraucht wurde. Während die optimale Dosierung noch nicht abschließend definiert ist, scheinen die meisten Teilnehmer an den oben genannten Studien von einer geteilten Gabe zwischen 20 und 40 mg THC pro Tag profitiert zu haben.

Medizinisches Cannabis und MS-bedingte Schmerzen

Eine der Hauptindikationen für die Verordnung von medizinischem Cannabis sind therapieresistente und chronische Schmerzen, wobei die Effektivität in einer Vielzahl von Studien belegt wurde. Insbesondere die CB1-Rezeptoren im Gehirn und in den peripheren Nerven spielen hierbei eine Rolle in der Modulation und Verarbeitung von Schmerzen. Auch Patienten mit Multipler Sklerose leiden in etwa 2 von 3 Fällen unter zahlreichen Schmerzformen, insbesondere Kopf- und Rückenschmerzen, aber auch neuropathische Schmerzen in den Armen und Beinen. Letztere treten durch eine Nervenschädigung auf und sprechen in den meisten Fällen nicht ausreichend auf herkömmliche Analgetika an. In ihrer Arbeit stellen die Autorinnen eine Handvoll Studien vor, welche die Effekte von Cannabinoiden auf die Schmerzsymptomatik von MS-Patienten untersuchten. Sie alle haben gemeinsam, dass eine signifikante Reduktion der Schmerzsymptomatik durch Cannabispräparate gezeigt werden konnte.

Dies bescheinigten insbesondere auch qualitativ hochwertige Studien, wie eine randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Parallelgruppenstudie aus dem Jahr 2005, in der die Interventionsgruppe durchschnittlich 26 mg THC (Nabiximol) pro Tag einnahm und nach 4 Wochen eine 41%-ige Reduktion der Schmerzen (gegenüber einer 22%-igen Reduktion in der Placebogruppe) erzielen konnte. Eine andere Studie konnte 2015 zeigen, dass ein synthetisches orales THC-Imitat zusätzlich zur etablierten Therapie, auch bei schwer zu behandelnden neuropathischen Schmerzen, eine wirksame und gut verträgliche Option darstellte. Nach Sichtung der Literatur gab es insgesamt 7 von 11 verfügbaren Studien, die eine signifikante Schmerzreduktion bei MS belegten. Medizinisches Cannabis stellt nach aktuellem Forschungsstand bei MS-induzierten Schmerzen also eine vielversprechende Therapieoption dar.

Eine andere Studie konnte 2015 zeigen, dass ein synthetisches orales THC-Imitat zusätzlich zur etablierten Therapie, auch bei schwer zu behandelnden neuropathischen Schmerzen, eine wirksame und gut verträgliche Option darstellte. Nach Sichtung der Literatur gab es insgesamt 7 von 11 verfügbaren Studien, die eine signifikante Schmerzreduktion bei MS belegten. Medizinisches Cannabis stellt nach aktuellem Forschungsstand bei MS-induzierten Schmerzen also eine vielversprechende Therapieoption dar.

Potenzielle Nebenwirkungen von Medizinalcannabis

Wie bei jedem anderen Arzneimittel können auch bei der Einnahme von medizinischem Cannabis Nebenwirkungen auftreten. Im Gegensatz zu etablierten starken Schmerzmitteln wie Opioiden, scheint den Autorinnen nach eine tödliche Überdosis mit Cannabis nicht möglich – hierzu müssten 750 kg Cannabis in 15 Minuten vollständig geraucht werden. In der Übersichtsarbeit wird die aussagekräftigste Studie zu Cannabis-induzierten Nebenwirkungen vorgestellt, in der zwischen gefährlichen und nicht-gefährlichen Nebenwirkungen unterschieden wird: Hier stellten Kopfschmerzen (5%), eine Entzündung des Nasen-Rachenraums (4,5%) und Schwindel (4,4%) die häufigsten nicht-gefährlichen potenziellen Nebenwirkungen dar. Schwerwiegende Nebenwirkungen, beispielsweise Magen-Darm-Erkrankungen sowie Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems, traten jeweils signifikant seltener auf.

Zusammenfassung

In den letzten Jahren hat die Forschung um Cannabis als Arzneimittel bei MS deutlich an Fahrt aufgenommen. Nichtsdestotrotz sind einzelne Fallberichte immer noch zahlreicher als hochwertige und placebo-kontrollierte Studien. Beinahe alle konnten jedoch zeigen, dass medizinisches Cannabis insbesondere auf die Muskelspastizität und neuropathische Schmerzen bei Multipler Sklerose eine symptomlindernde Wirkung hat. Die in dieser Arbeit ausgewerteten Studien verwendeten meist eine geteilte Dosis von 20 – 40 mg THC pro Tag und Patient. Die Überlegenheit eines bestimmten Cannabispräparats konnte nicht gezeigt werden. Das Medizinalcannabis wurde im Allgemeinen gut vertragen und insbesondere schwerwiegende Nebenwirkungen traten nur sehr selten auf.

 

 

Quellenangaben

[1] Rice, J., & Cameron, M. (2018). Cannabinoids for Treatment of MS Symptoms: State of the Evidence. In Current Neurology and Neuroscience Reports (Vol. 18, Issue 8). Springer Science and Business Media LLC. https://doi.org/10.1007/s11910-018-0859-x